Über mich und Charlotte
Gratuliere zum zweiten Buch! Was inspirierte dich zur Idee für Charlotte, die Schlittschuhschnecke?
Danke für den Glückwunsch. Ich hatte nicht vor, ein zweites Buch zu schreiben, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich eine andere Figur jemals so liebhaben könnte wie das Eulenkind Taio. Aber dann hörte ich ein kleines Mädchen die Aussprache des sch üben und wusste in diesem Moment, dass ich eine Geschichte über eine SCHlittSCHuhSCHnecke schreiben würde.
Es ist eindrücklich: Meinem Erstling Eule Beule Bruchpilot lag ein Versprecher zugrunde, dem zweiten Buch ein schwieriger Zischlaut. Das gefällt mir sehr, weil es etwas vom japanischen Konzept Wabi-Sabi hat, bei dem Unvollkommenheiten als bewundernswert gelten. Mich inspirierten sie zu Veröffentlichungen und legten eine neue Facette meiner Identität frei: die Schreiberin.
Taio ist ja nicht aus der Welt, sondern in diesem neuen Buch Charlottes Freund und Helfer. Was verbindet die zwei?
Beide wissen, was sie wollen, finden eigene Wege dahin und haben kluge Ideen sowie einen Stern, der ihr Selbstvertrauen symbolisiert. Sie ergänzen sich aber auch: Taio war ein verschupftes, zurückhaltendes Eulenkind, dem das Leben schon früh manche Wunde geschlagen hatte, der heilen und bei Felian Zuversicht und Selbstvertrauen tanken musste. Charlotte dagegen mit ihren kecken Sommersprossen und der puren Abenteuerlust in den Augen düst im Schneckengalopp heran und ruft: «Hallo Welt, hier bin ich. Was erleben wir heute? Hauptsachen, etwas Spannendes!»
Und beide sind im Sommervogelwald zu Hause.
Dieser Name ist eine von jenen Eingebungen, die einem «plötzlich» zufliegen, nachdem man die längste Zeit ergebnislos darüber gebrütet hat. Und wenn sie dann da sind, so selbstverständlich, so genau richtig, fragt man sich: Es kann ja gar nicht anders sein. Wie ist es möglich, dass ich nicht von Anfang auf die Idee kam?
Sommervogel ist ein Schweizer Dialektwort für Schmetterling. Sommervögel sind also Raupen, denen Flügel gewachsen sind. Im ersten Buch wurde ein Eulenkind mit Selbstvertrauen beflügelt, im zweiten viele Tiere mit Mut. Jetzt sehne ich mich danach, Geschichten von Tieren zu schreiben, die sich neue, leuchtende Eigenschaften erobern und die ihnen zugedachten Lebensumstände und Erwartungen/Zuschreibungen überflügeln. Die weiterträumen … Und höher und tiefer und reicher und kühner und wilder, als sie es je gewagt haben.
Blut geleckt?
Eher einen Feenstern verschluckt und so entdeckt, dass es mit Selbstvertrauen und Mut viel schöner und einfacher wird.
Was willst du mit deinem Buch erreichen?
Dass Menschen etwas wagen und entdecken: In meinem Kopf ist es viel schwieriger als in Wirklichkeit.
Und wer weiss, plötzlich wird Schweres leicht und Unmögliches zu einem Kinderspiel. Einst las ich, man predige stets, was man selbst lerne, und zumindest auf mich trifft das völlig zu.
Was hast du beim Schreiben gelernt?
Wie komplett ich mich in Worten verliere. Und finde.
Ich habe im Sommervogelwald mehr Tiere kennengelernt und mich mit ihnen angefreundet und bin dort heimisch geworden.
Was war die grösste Überraschung?
Überraschung, Ritterschlag und Freudenrausch gleichermassen: Ich fragte eine meiner Lektorinnen, eine preisgekrönte Übersetzerin von Kinderbüchern, was noch fehlen würde, damit ein richtiger Verlag mein neues Bilderbuch annehmen würde. Sie antwortete, ich könne es zum Beispiel bei Verlag x versuchen.
Zum Beispiel! Es könnte ihrer Meinung nach jetzt schon tauglich sein!
Als ich erwiderte, ich sei von dieser Vorstellung ganz überwältigt, doppelte sie nach: «Es gibt sehr viele Verlage und du kannst es einfach versuchen! Vielleicht ist es was für Verlag y oder z.»
Wo viel Licht ist, ist auch starker Schatten. Was war die herbste Ohrfeige?
Eine zweite Lektorin äusserte sich im schriftlichen und mündlichen Erstkontakt auch sehr wohlwollend, schrieb dann aber nicht nur die Geschichte so komplett um, dass kaum ein Satz von mir übrigblieb, sondern rieb mir auch noch sämtliche Nachteile einer Selbstpublikation unter die Nase, was zusammen mit allgemeinen Beanstandungen eine fünfseitige Abhandlung ergab. Zum Glück kreuzten sich unsere Wege erst jetzt. Ich weiss nicht, ob ich andernfalls den Mut gehabt hätte, Eule Beule Bruchpilot herauszubringen. Wie viele schöne Erlebnisse hätte ich dann verpasst!
Wen empfandest du als besonderen Segen?
Meine Illustratorin Anna. Manchmal kommt es mir vor, als wirble sie nicht mit einem Stift über ihr Tablet, sondern mit einem Zauberstab.
Eine Testleserin, deren Anregungen Charlottes draufgängerische Art deutlicher zum Vorschein brachten und eine frustrierende Zeit der Ideenlosigkeit beendete, was witzige Einsprengsel und wortlose Nebengeschichten betraf.
Ein mir unbekannter, beeindruckend guter und verbindlicher Buchbinder aus Stuttgart stand mir über Wochen hinweg mit Rat und Tat zur Seite, beantwortete in einem halbstündigen Telefonat Fragen, schrieb auf E-Mails in Rekordschnelle zurück (sogar nach Feierabend), beglich die Zollgebühren für ein Ansichtsexemplar aus eigener Tasche und lehnte eine Bezahlung ab: «Man kann ja auch einfach einmal helfen.» Ich hoffe allein schon deshalb auf Ideen für weitere Geschichten, um künftig bei ihm zu buchen. 1000 Dank, Herr K.!
Hast du beim Schreiben über die Verwendung eines Pseudonyms nachgedacht?
Diesmal nicht. Aber wie wäre es mit Jacques Motcompte? Jedes Wort zählt auf französisch mit orthographischen Umgestaltungen.
Apropos französisch: Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, aus Frère Jacques Charlottes Mutmachlied zu machen?
Wie beim Sommervogelwald: Ewig daran herumstudiert, viel zu weit gedacht, gewusst: Das ist es.
Wenn du eine Geschichte zum x-ten Mal umgeschrieben hast, bis du überzeugt bist, dass es nicht mehr besser geht, und sie glühend vor Stolz der Buchbinderei schickst – wie lange hält diese Zufriedenheit eigentlich an?
Frag nicht. Ich tagträumte bereits von einer überarbeiteten zweiten Auflage, bevor die Buchbinderei sich an die erste machte.
Wieso erstaunt mich das jetzt nicht? Aber nun gut, letzte Frage an dich. Wer bist du, wenn du nicht schreibst?
Abgesehen von Tagträumerin bin ich auch Wasserverehrerin, Teetrinkerin, Wenigschläferin, Premierenerfinderin und Novizin. Ich arbeite als selbständige Deutschlehrerin und Angestellte im Nachtdienst.
Charlotte, wer bist du, wenn du nicht mit Vollgas über das Eis düst?
Dann suche ich das Bauchkribbeln anderswo! Ich finde es so lustig, wenn mein Opa fassungslos den Kopf schüttelt und «Sapperlot, Charlotte!» sagt.
Schwingt in diesem «Sapperlot» Erstaunen, Überraschung, Entrüstung, Begeisterung, Unwille oder Verwunderung mit?
Eine gelungene Mischung, würde ich sagen.
Du als Mutprofi: Was ist dein Tipp, wenn jemand mutiger sein möchte?
Erstens: Frag dich: Was ist das allerwinzigste Schrittchen Richtung Freiheit, das ich mich heute traue?, und mach das! Winzig ist wichtig, damit dein eigener Mut dich nicht einschüchtert und die Seele mit den Veränderungen Schritt halten kann. So bekommt dein Unterbewusstsein auch keinen Trotzanfall, weil es sich am wohlbekannten Immergleich festklammern möchte.
Zweitens: Nimm deinen Erfolg vorweg! Schwelge gedanklich im grandiosen Triumphgefühl, wenn du dich einer Sache stellst, die dir Angst einjagt oder die du dir nicht zutraust. Mal dir in den leuchtendsten Farben aus, wie du sie bewältigst, und mach dich so innerlich bereit. Irgendwann ist die Sehnsucht grösser als die Angst und dein Herz sagt: Jetzt!
Drittens: Lern, dich mit Herzklopfen, Puddingknien und Flatternerven lebendig zu fühlen! Das schenkt Freiheit, Selbstsicherheit, Freude und Stolz und macht das Leben schöner, bunter und heller. Du lernst ganz neue Seiten an dir kennen, wirst stolz auf dich und schaust viel kecker in die Welt, die auf einmal viel mehr funkelt als zuvor.
Autorin
Fabienne Müller
Star der Geschichte
Charlotte
